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27.05.2021
Museum

Die „Grande Dame“ der Leichtathletik und der SGE

Am 17. Mai 2021 ist Ilse Bechthold im Alter von 93 Jahren in Frankfurt verstorben. Wir werden unsere Ilse vermissen!

Am 27. Mai fand die Beerdigung von Ilse Bechthold statt. Die „Grande Dame“ der Leichtathletik und der SGE war am zehn Tage zuvor im Alter von 93 Jahren verstorben. Im Jahrbuch des Museums 2020 hatten wir Ilse Bechthold ein Portrait gewidmet. In dankbarer Erinnerung möchten wir den Text an dieser Stelle noch einmal veröffentlichen.

Ilse Bechthold, die „Grande Dame“ der Leichtathletik und der SGE

Geboren wurde Ilse Bechthold 1927 in Bieber, wo ihr Opa und Vater eine Brotfabrik besaßen. Ilse besuchte die Grundschule in Bieber. Als die Brotfabrik von den Nationalsozialisten übernommen wurde, zog die Familie nach Offenbach. Ilse, die damals mit Nachnamen noch Peters hieß, erlebte hier die Schreckensnächte des Zweiten Weltkriegs auf tragische Weise. Bei einem Luftangriff wurde das Haus der Familie getroffen. Als die Familie nach dem Angriff aus dem Keller rauskletterte, wurden ihr dreijähriger Bruder Otmar und die Oma von herabstürzenden Trümmern getroffen. Der Bruder war sofort tot, die schwerverletzte Großmutter verstarb wenig später im Krankenhaus.

Die dezimierte Familie ging nach Schwalbach, wo Ilses Mutter Elisabeth ursprünglich herstammte, und kam in einem Haus der Familie unter. „Aber wir hatten in dem kleinen Haus nur ein Zimmer, in dem wir zu dritt und mit Sack und Pack hausten. Meine Eltern schliefen in einem Bett unterm Dach, ich auf dem Sofa“, erinnert sich Ilse an die letzten Wochen des Kriegs. Und als die Amerikaner Schwalbach einnahmen, war das für Ilse ein verstörender Moment. „Die Menschen haben am Straßenrand gejubelt. Ich dachte als Kind: warum jubeln die bloß, wenn der Feind kommt.“

Das öffentliche Leben war in den letzten Monaten des Kriegs größtenteils zusammengebrochen, bei Kriegsende hatte Ilse keinen Schulabschluss. „Ich habe dann versucht, über das Schulamt die Möglichkeit zu bekommen, meinen Schulabschluss nachzuholen. Da wurde dann eine Gruppe eingerichtet, in der ich mit zurückgekehrten Soldaten gelernt habe. Und so meinen Abschluss machen konnte.“

Ilse wohnte zu der Zeit immer noch in Schwalbach. In Bad Soden/Taunus auf dem Sportplatz lernte sie den Trainer der Handballfrauen von Bad Soden kennen, der sie überredete, dort mitzuspielen. So wurde Ilse Handballspielerin in einer erfolgreichen Truppe: „Wir haben fast um die Deutsche Meisterschaft in München mitgespielt“, erinnert sie sich lachend. „Einmal haben wir bei den Lorsbachtal-Spielen mitgemacht, da gab es auch Leichtathletikwettkämpfe. Da habe ich den Weitsprung-Wettbewerb, den 60-Meter-Sprint und das Kugelstoßen gewonnen. Da hat mich ein Trainer aus Höchst beobachtet, Heinz Karger, der war Schulamtsleiter in Frankfurt, der mich dann überredet hat, nach Höchst zum Leichtathletiktraining zu kommen."

Nachdem die Hürde des Schulabschlusses genommen war, wollte Ilse studieren. „Eine junge Vereinskameradin hat mir gesagt hat, dass man in Frankfurt auch wieder Sport studieren könne. Ich war immer sportbegeistert, so habe ich in Frankfurt mein Sportstudium begonnen. Bei der Aufnahmeprüfung war ein Sportlehrer Neeb, der war auch Leichtathletiktrainer bei der Eintracht. Er hat mir gesagt, ich solle doch mal donnerstags um 17 Uhr zum Training an den Rosegger kommen. Das war 1948, so wurde ich Mitglied der Eintracht.“

Fortan war Ilse bei der Eintracht als Handballerin aktiv und in der Leichtathletik. „Kugelstoßen und Diskus waren meine bevorzugten Disziplinen. Wenn ich montags Diskus trainiert habe, habe ich dienstags Kugelstoßen geübt. Und dazu immer noch Handball gespielt, wir hatten eine tolle Truppe. Das hat mir einen unheimlichen Spaß gemacht“, erinnert sich Bechthold an die Zeiten, als die Eintracht heimatlos war, weil der alte Riederwald kriegszerstört war und die Bauarbeiten für eine neue Anlage erst langsam anliefen. Der alte Sportplatz an der Rosegger Straße war damals das Herzstück des Vereins, der langsam wieder auf die Beine kam. Eine ganze Generation Jugendfußballer erinnert sich noch heute daran, dass die Jungs damals an der Holzumkleidekabine durch Astlöcher gelukt haben, wenn die Handballerinnen sich geduscht haben. Ilse erinnert sich daran auch, lacht aber: „Wir haben immer Lehm mitgebracht und den in die Astlöcher gefüllt. Da hatten die Jungs nichts mehr zu sehen.“ Das Training der Universität fand im Stadion und in der Wintersporthalle statt. „Da mussten wir bis Sachsenhausen an die Haltestelle Hippodrom laufen und von da mit der Straßenbahn zum Stadion fahren“.

Von 1948 bis 1973 errang Ilse Bechthold 26 Hessische Meisterschaften im Kugelstoßen und Diskuswerfen, fünfmal wurde sie Süddeutsche Meisterin. Mehrfach war sie Endkampfteilnehmerin bei der Deutschen Meisterschaft. Außerdem war sie Diskuswerferin in der Nationalmannschaft und nahm an Länderkämpfen teil. Unterstützt wurde sie stets vom Abteilungsleiter Günter Köster, der ihr Multitalent schnell erkannt hatte. Bei der Eintracht spielte sie Feldhandball, unter anderem mit Speerwurf-Olympiasiegerin Tilly Fleischer). Als eine Volleyballabteilung gegründet wurde, war Ilse dabei – und wurde mit den Volleyballdamen Südwestmeister. Auch bei den neu gegründeten Basketballerinnen machte sie mit. „Ich habe mich nie auf eine Sportart voll spezialisiert, es hat mir alles so viel Spaß gemacht. Und vor allem die Gemeinschaft habe ich immer genossen, deswegen habe ich mich auch im Mannschaftssport so wohl gefühlt.“

Nach dem Studium und dem Referendariat nahm Ilse, seit 1957 mit Horst, einem aktiven Ruderer der Germania verheiratet, eine Stelle an der Universität Gießen an. Hier unterrichtete sie Sportspiele und Leichtathletik. Gleichzeitig begann sie, sich als Funktionärin zu engagieren. Seit 1968 war sie Frauenwartin und Präsidiumsmitglied im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), seit 1971 auch im Vorstand der Leichtathletikabteilung der Eintracht. „Ich war die einzige Frau in den Gremien. Das hat sich bis heute leider nicht geändert.“ Es folgten weitere Ämter: Vizepräsidentin im DLV, NOK-Mitglied (Nationales Olympisches Kommitee, seit 2006 DOSB), Verwaltungsratsmitglied bei der Eintracht, Gutachterin der Sporthilfe, Mitglied und später Vorsitzende der IAAF-Frauenkommission (heute World Athletics, Leichtathletik-Weltverband). Mit einer bewundernswerten Energie setzte sie sich für die Belange der Frauen ein und erkämpfte Schritt für Schritt mehr Gleichberechtigung im Sport. „Bei den Olympischen Spielen 1972 in München habe ich die Athletinnen betreut und wohnte mit ihnen im Olympischen Dorf. Da habe ich auch das Attentat miterlebt, das war eine ganz schwere Zeit. In München hat mir August Kirch, der Präsident des DLV, gesagt, dass ich auf die Wahlliste des Frauenkomitees der IAAF gesetzt werde. Da wurde ich dann reingewählt. Und ich hatte schon meine Vorstellungen. Die Frauen durften damals in der Leichtathletik nicht das volle Programm absolvieren. Das haben meine Kolleginnen und ich im Komitee nach und nach geändert. 1981 wurde ich Vorsitzende des Frauenkomitees der IAAF. Bis 2007 haben wir die gleichen Disziplinen für die Frauen erarbeitet wie für die Männer. Lediglich den Zehnkampf hatten wir im Meisterschaftsprogramm noch nicht durchgesetzt. 2007 habe ich dann nicht mehr kandidiert. Bis heute ist der Zehnkampf für Frauen im Wettkampfprogramm und wird durchgeführt, aber er ist kein internationales Meisterschaftsprogramm und keine olympische Disziplin. Das wäre noch ein Ziel.“

Beruflich kehrte Ilse Bechthold nach Frankfurt zurück und arbeitete als Sportdozentin am Institut für Sportwissenschaft der Universität Frankfurt.

Für ihre Leistungen wurde Ilse Bechthold mit zahlreichen Auszeichnungen versehen. Bei der Eintracht ist sie längst mit der goldenen Verdienstnadel, der Ehrenurkunde und der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet, von der Stadt Frankfurt wurde sie mit der großen Verdienstplakette geehrt. 1988 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, seit 1993 ist sie DLV-Ehrengoldträgerin, 2007 erhielt sie den „Women and Sport Trophy“ des IOC für Europa.  Ebenfalls vom IOC wurde sie 2016 mit dem höchsten Orden des Internationalen Olympischen Komitees, dem „Olympic Order“ geehrt.

In einer Laudatio anlässlich des 90. Geburtstags von Ilse Bechthold wurde 2017 verkündet: „Es gibt keine Orden mehr, die Du noch kriegen könntest“. Und der kürzlich verstorbene Walther Tröger, langjähriges IOC-Mitglied und NOK-Ehrenpräsident, ergänzte: „Ilse Bechthold zeichnen hohe Fachkenntnisse, diplomatisches Geschick und eine sichere Zielstrebigkeit aus, kurz und knapp: Sie war und ist ein großes Vorbild für alle Frauen und Männer, die ihr nachfolgen speziell in der Leichtathletik, aber auch im Sport insgesamt.“ Ministerpräsident Volker Bouffier sagte anlässlich ihres 90. Geburtstags: „Ilse Bechthold hat noch nie etwas für sich gewollt. Sie setzt sich immer nur für die Anderen ein.“

Am 17. Mai 2021 ist Ilse Bechthold im Alter von 93 Jahren in Frankfurt verstorben. Wir werden unsere Ilse vermissen!

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